Das optische System des normalsichtigen Auges funktioniert so, dass die Hornhaut und die Linse Lichstrahlen so bündeln, dass auf der Netzhaut ein scharfes Abbild der Umgebung entsteht.
Bei Kurzsichtigkeit ist das Auge zu lang, sodass Licht nicht auf sondern vor der Netzhaut gebündelt wird, man spricht von myopem Defokus.
Vor allem in der ersten Welt werden immer mehr Kinder kurzsichtig und die Tendenz steigt weiter an. Zurzeit sind 10-20% der Kinder in Europa kurzsichtig, man spricht von der sogenannten Schulmyopie. 25% dieser Kinder entwickeln später in ihrem Leben eine sogenannte krankhafte Kurzsichtigkeit (pathologische Myopie), die mit Veränderungen der Netzhaut, Makuladegeneration, Grünem Star und Netzhautablösung, einhergeht.
Die Entstehung der Kurzsichtigkeit ist noch nicht abschliessend geklärt, wobei einzelne Einflussfaktoren bekannt sind. Zu diesen gehören einerseits erbliche und andererseits umgebungsbedingte Komponenten. Kinder mit einem kurzsichtigen Elternteil haben ein doppelt so hohes Risiko selbst kurzsichtig zu werden wie Kinder mit normalsichtigen Eltern. Wenn beide Elternteile kurzsichtig sind steigt das Risiko sogar auf das Drei- bis Fünffache an. Ein weiterer Faktor ist der Einsatzbereich der Augen, der sich in unserer Gesellschaft immer mehr von der Ferne in die Nähe verschiebt, man spricht von zunehmender Naharbeit (z.B. Lesen, Smartphone, Tablet).
Die Kurzsichtigkeit kann nicht rückgängig gemacht werden, aber das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit kann abgebremst oder sogar angehalten werden.
Einfache Tipps helfen nachweislich die Entwicklung der Kurzsichtigkeit zu bremsen.
Die effektivsten Therapieverfahren, um die fortschreitende Kurzsichtigkeit bei Kindern zu bremsen sind Atropin-Augentropfen und multifokale Kontaktlinsen oder Brillen. Die Verfahren können einzeln oder kombiniert angewandt werden, um die Wirkung zu verstärken.
Bei Kindern von 6 bis 14 Jahren mit progressiver Kurzsichtigkeit (ab 0.5 dpt/Jahr) konnte mittels grossen Studien nachgewiesen werden, dass das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit durch die unterstehenden Methoden deutlich abgebremst werden kann. Bei älteren Kindern ist die Datenlage nicht eindeutig, was aber auch nicht gegen einen Therapiebeginn nach dem 14 Lebensjahr spricht.
Der Wirkmechanismus von Atropin ist immer noch nicht vollständig verstanden, jedoch mit mehreren gross angelegten Studien erwiesen. Die Anwendung von hochverdünnten Atropin-Augentropfen (0.01%) bremst die Kurzsichtigkeitsentwicklung im Durchschnitt um 30-60%. Nebenwirkungen wie Blenden oder Verschwommensehen beim Lesen, treten aufgrund der starken Verdünnung in der Regel nicht auf.
Herkömmliche Brillen oder Kontaktlinsen bringen die Lichtstrahlen im Zentrum der Netzhaut zusammen und sorgen so für ein scharfes zentrales Bild. Rings um dieses zentrale Bild jedoch entsteht ein unklares Bild mit einem sogenannten hyperopen Defokus, d.h. die Strahlen würden hinter der Netzhaut ein scharfes Bild ergeben, nicht jedoch aber auf der Netzhaut.
Man geht davon aus, dass dieser Hyperoper Defokus das Auge anregt in die Länge zu wachsen, also kurzsichtiger zu werden. Speziell geformte Kontaktlinsen ermöglichen, dass alle Lichtstrahlen zu einem scharfen Bild gebündelt werden, der Wachstumsstimulus bleibt folglich aus und das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit kann um 25-50% vermindert werden.
Es gibt zwei Arten von Kontaktlinsen für die Behandlung der Kurzsichtigkeit bei Kindern:
Hornhautinfekte, die auf die Kontaktlinsen zurückzuführen sind, treten nur sehr selten auf und lassen sich durch sachgemässe Handhabung der Kontaktlinsen vermeiden.
Das Prinzip der multifokaler Brillen ähnelt demjenigen von multifokalen Kontaktlinsen. Das Brillenglas wird genau auf die Augen des Kindes angepasst damit der Blick geradeaus durch das optische Zentrum geht. Periphere Lichtstrahlen fallen durch stärker brechende Teile des Brillenglas, die kreisförmig um das optische Zentrum angeordnet sind. Diese Technologie wird Defocus Incorporated Multiple Segments (DIMS) genannt. Die Erfolgschancen entsprechen im Durchschnitt denjenigen von multifokalen Kontaktlinsen, vorausgesetzt die Brille wird konsequent getragen.
Die Mehrzahl der behandelten Kinder profitiert deutlich von der Therapie, d.h. das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit kann auf unter 0.5 Dioptrien pro Jahr abgebremst werden. Die Therapie kann in den meisten Fällen nach wenigen Jahren reduziert und danach vollends gestoppt werden. Nach dem Sistieren der Therapie soll weiterhin kontrolliert werden ob sich nicht wieder eine Verschlechterung einstellt.
Nur ca. 12% der behandelten Kinder sprechen schwach auf die Therapie an (< 0.5 dpt Reduktion pro Jahr). Diese sogenannten «poor responders» können von einer Erhöhung der Atropin-Dosierung (von 0.01% auf 0.05%) profitieren, sofern die Nebenwirkungen vertragen werden. Therapieänderungen sollten in jedem Fall ärztlich begleitet werden, um mögliche Nebenwirkungen entgegenzuwirken.
Das Fortschreiten der Myopie wird halbjährlich durch den Augenarzt kontrolliert. Dabei sind zwei Untersuchung von besonderer Wichtigkeit. Um den Sehfehler genau zu messen muss die Akkommodation durch den Ziliarmuskel ausgeschaltet werden. Dies geschieht mittels Cyclopentolat-Augentropfen, deren Wirkung noch mehrere Stunden nach der Untersuchung anhält. Zweitens wird die Augenlänge mittels Ultraschall-Biometrie vermessen und dokumentiert. Beide Untersuchungen sind für das Kind schmerzfrei und im Hinblick auf Nebenwirkungen unbedenklich.
Die Atropin-Augentropfen werden durch den Augenarzt jeweils für sechs Monate verschrieben.
Für die Anpassung multifokaler Kontaktlinsen oder Brillen wird ein spezialisierter Optiker oder Optometrist beigezogen. In der Regel erfordert die Anpassung der Kontaktlinsen und das Erlernen des Handlings mehrere Besuche beim Optiker.
Das abrupte Stoppen der Therapien kann zu einer überschiessenden Rückbildung der Kurzsichtigkeit führen. Das Ziel der Myopiekontrolle ist es die Myopie zuerst abzubremsen und danach die Therapie kontrolliert zu reduzieren, um eben diese überschiessende Rückbildung zu verhindern.
Die Kosten der ärztlichen Untersuchungen werden von der Grundversicherung gedeckt. Atropin-Augentropfen sind Bestandteil des Leistungskatalogs, die Kosten gehen zu Lasten der Krankenkasse. Für die Anpassung von speziellen Kontaktlinsen oder Brillen übernimmt die Grundversicherung bis zum 21. Lebensjahr 850.- pro Jahr (MiGeL 25.02.04.00.1), was einen grossen Teil der gesamten Kosten des Optikers deckt.